Selbstorganisation ist nicht gleich Selbst-Organisation

Durch | 22. November 2020

Dieser Artikel erschien erstmals 2010 und wurd am 22.11.2020 redaktionell sowie bzgl. Layout überarbeitet und neu veröffentlicht.

Der Begriff der Selbstorganisation hat zwei Aspekte oder Bedeutungen, die zwar Ähnlichkeiten aber auch fundamentale Unterschiede aufweisen. Gelegentlich werden zur Differenzierung auch zwei Schreibweisen (mit oder ohne Bindestrich) verwendet ((Thomas Schneider hat in einem Kommentar eines früheren Beitrag hier im Blog auf eine Bedeutungsdifferenz von SO via S-O hingewiesen.)).

Ich möchte mir der älteren Bedeutung aus der Systemtheorie beginnen. Die aus der Systemtheorie stammende Bedeutung kann im entsprechenden Wikipedia-Beitrag nachgelesen werden. Die Wurzeln des Begriffs stammen aus der Chaos-Theorie und der Synergetik. In einem wichtigen Buch schreibt einer der Begründer der Synergetik Hermann Haken gleich zu Beginn die entscheidenden Sätze ((Hermann Haken: Synergetics – An Introduction, Springer ISBN 3-540-12356-3, 3. Auflage, p. 17)):

The objects we shall investigate in our book may be quite different. In most cases, however, we shall treat systems consisting of very many subsystems of the same kind or of very few kinds.

Ich halte fest: Es geht um sehr große Systeme mit sehr vielen gleichartigen Objekten. ((Dementsprechend sind viele mathematische Methoden der Statistik entlehnt. Ein anderer Teil der verwendeten Mathematik entstammt dem Werkzeugkasten der nichtlinearen Differentialgleichungen.))

Der zweite Bedeutungsschwerpunkt entstammt der agilen Bewegung in der das “selforganized team” beschworen wird. Dies ist mehr im Sinne einer selbst gemachten Organisation zu sehen. Dies geschieht durch Interaktion der Menschen in der Gruppe. Aus der Interaktion entsteht die Gruppendynamik, die im günstigen Fall ein selbstorganisiertes Team hinterlässt ((Es gibt durchaus auch Fälle in denen sich aus den gruppendynamischen Konflikten ein Zerbrechen der Gruppe ergibt.)).

Auf Interaktion basierende Gruppendynamik hat in den kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten eine natürliche Begrenzung und funktioniert nur für “kleine” Gruppen, in der/die Einzelnen auch als Individuum sichtbar bleiben.

Genau hier liegt der entscheidende Gegensatz: Große Systeme mit gleichartigen Objekten vs. kleine Gruppen mit individuellen Charakteren. Auch wenn die Methoden der “großen Selbstorganisation” auf die Soziologie übertragen werden und ihre Anwendung im Management angepriesen werden, halte ich dies nicht für sinnvoll. Hier zitiere ich nochmals Hermann Haken. Im letzten Kapitel schreibt er über die Anwendbarkeit in der Soziologie:

On the other hand, within the spirit of this book, we have seen that in systems with many subsystems there exist at least two levels of description: One analysing the the individual system and the other one describing the statistical behavior using macroscopic variables.

Er führt weiter aus, dass für die Anwendung in der Soziologie, die relevanten makroskopischen Variablen, die das System gut beschreiben, gefunden werden müssten. Genau da liegt das Problem. Diese Variablen lassen sich allenfalls in gröbster Näherung für große Gruppen mit geringen Freiheitsgraden finden. So lässt sich die Dynamik einer La-Ola Welle im Fußballstadium ganz gut beschreiben. Wird die Gruppe kleiner und die Interaktion komplizierter, scheitert dieser Ansatz sehr schnell. Bei der La-Ola-Welle sind 50 000 Menschen mit minimaler Interaktion, ein Freiheitsgrad der Bewegung und die üblichen Observablen einer Welle zu betrachten. Um das Verhalten einer Abteilung einer Firma zu beschreiben genügt es nicht mehr zu notieren ob der Mensch steht oder sitzt.

In diesem Gegensatz ist zudem eine ethische Frage verborgen. Wird der Mensch in einer Organisation als (gleichartiger nicht individueller) Teil eines Systems aufgefasst oder lässt man ihn Mensch bleiben? Wer von Selbstorganisation spricht hat diese Frage noch nicht beantwortet. Die Antwort liegt darin verborgen von welcher Selbst(-)Organisation gesprochen wird.